Leider kein verspäteter Aprilscherz!

Artikel aus der Zeit vom 27. Januar 2011

DDT-GHS-Gefahrstoffkennzeichnung aus EU-Verordnung (EG) 1272/2008 (CLP)
Sind die verheerenden Folgen der weltweiten DDT-Ausbringung schon vergessen?

Aigner will Zulassung von Pestiziden vereinfachen

Nach Medienberichten will Verbraucherschutzministerin Aigner die Hürden bei der Zulassung von Pestiziden senken. Das Vetorecht des Umweltbundesamtes soll entfallen.

Nach Informationen des ARD-Magazins Monitor soll das Umweltbundesamt bei der Zulassung von Pestiziden künftig kein Veto-Recht mehr haben, wenn dieses Pestizid bereits in einem anderen EU-Land zugelassen wurde. Konkret geht es dabei um die Länder der sogenannten Mittleren EU-Zone. Dazu zählen unter anderem Rumänien, Polen, Österreich und Großbritannien. Dies geht aus einem Gesetzentwurf des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hervor.

Der Naturschutzbund Deutschland (NABU) kritisiert das geplante Gesetz als "schweren Schlag für den Umwelt- und Verbraucherschutz", so NABU-Sprecher Florian Schöne. Die Organisation befürchtet, dass "das hohe deutsche Schutzniveau erheblich verwässert wird, indem Altwirkstoffe aus anderen Mitgliedstaaten, die im hohen Maße toxisch, krebserregend und gefährlich sind, plötzlich auf dem deutschen Markt zugelassen werden."

Das Landwirtschaftsministerium bestätigte gegenüber Monitor die Existenz des Gesetzentwurfes. Im EU-Zulassungsverfahren sollten auf nationaler Ebene "doppelte Prüfungen vermieden werden".

Allein im Jahr 2010 hatte das Bundeslandwirtschaftsministerium 150 Zulassungsanträge nach Pflanzenschutzgesetz befürwortet. 32 dieser Anträge wurden vom Umweltbundesamt jedoch per Veto gestoppt, wegen zu hoher Risiken. Damit habe, so NABU-Sprecher Schöne, das UBA dem "industriefreundlichen Bundeslandwirtschaftsministerium Paroli geboten".“

Die Zeit / 27.01.2011


Textquelle

Zeit-Artikel vom 27. Januar 2011: Aigner will Zulassung von Pestiziden vereinfachen


Bald noch mehr Gift im Essen? Aigners toxischer Gesetzentwurf

WDR/Monitor / 27.01.2011

Bericht: Markus Schmidt, Andreas Maus, Sascha Adamek

Sonia Seymour Mikich: "In ihrem Ministerium übt Ilse Aigner tagtäglich einen Spagat. Sie soll oberste Verbraucherschützerin sein und ist zugleich oberste Patronin der Landwirte. Aber Spagate können einen bekanntlich schwer ins Wackeln und Zittern bringen. Noch ist der Dioxin-Skandal nicht aufgearbeitet, da droht Ilse Aigner neue Kritik. MONITOR liegt ein brisanter Gesetzentwurf aus ihrem Hause vor. Und darin geht es um die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln, von Pestiziden. Markus Schmidt, Andreas Maus und Sascha Adamek berichten, warum die Chemie- und Agrarlobby sich bedanken kann."

Frühling 2008, das Land in voller Blüte. Dann starben die Insekten – massenhaft – von Basel bis Karlsruhe im Rheintal, überall tote Bienen. Für die Imker eine Katastrophe. Ekkehard Hülsmann erinnert sich.

Ekkehard Hülsmann, Imker: "Das Sterben mit Nervengift geht sehr langsam. Die Bienchen starben so über Stunden. Das war wirklich grausam. Es war eine beängstigende Stille in der Natur. Es haben die Schmetterlinge gefehlt, es haben die Hummeln gefehlt, es haben die Wespen gefehlt, es haben die Mücken gefehlt und auch die Bienen."

Die Ursache damals ein Nervengift, ausgebracht über ein Pflanzenschutzmittel gegen Schädlinge im Maisanbau. Pflanzenschutzmittel, Pestizide, allzu oft ein Problem für Boden, Luft und Wasser und damit für uns Menschen. Pestizide stehen oft am Anfang, wenn es um unsere Lebensmittel geht. Für Lebensmittel ist sie die zuständige Ministerin. Und für Verbraucherschutz. Grüne Woche, lächeln. Ilse Aigner hat gerade einen Lebensmittelskandal zu managen: Dioxin in der Nahrung – wieder mal – und die Ministerin kündigt strengere Kontrollen an – wieder mal.

Ilse Aigner, Bundestag 19.01.2011: "Vorsorgender Verbraucherschutz muss vor allen wirtschaftlichen Interessen stehen. Der Schutz der Gesundheit hat die höchste Priorität."

Verbraucherschutz vor wirtschaftlichen Interessen? Ist das wirklich Aigners Ziel? Beim Thema Pestizide sind Zweifel angebracht. Denn hinter den Kulissen haben ihre Beamten einen Gesetzentwurf zum Pflanzenschutz entworfen, der der Industrie erheblich nützt. MONITOR liegt das bislang unveröffentlichte Papier vor. Und darum geht es. Wer entscheidet, welche Pestizide in Deutschland versprüht werden dürfen? Ein Markt, den sich in Europa große Konzerne der Agrochemie teilen. Ganz vorne dabei die deutschen Firmen Bayer und BASF, es geht um Milliardenumsätze. Und wie begründet die Ministerin in dem Papier den Gesetzentwurf? Nicht zuletzt mit dem Abbau von Wettbewerbsverzerrungen in Europa – es geht also um Profit. Dem stand diese Behörde häufig im Wege – das Umweltbundesamt. Für die Pestizid-Industrie eine unbequeme Behörde, denn sie hat bei der Zulassung ein Vetorecht. Im Jahr 2010 lehnte es in 150 Anträgen der Industrie, die die Aigner-Beamten zunächst befürwortetet hatten, am Ende 32 Anwendungen ab.

Florian Schöne, Naturschutzbund Deutschland: "Nach unseren Erfahrungen hat das Umweltbundesamt regelmäßig von seinem Vetorecht Gebrauch gemacht und damit dem doch ziemlich industriefreundlichen Bundeslandwirtschaftsministerium Paroli geboten. Das hat dazu geführt, dass besonders umwelt- und verbraucherschutzkritische Pflanzenschutzmittel die Zulassung verweigert wurde."

Und was macht Ministerin Aigner? Sie will das Umweltbundesamt entmachten. Unter Berufung auf eine neue EU-Verordnung will sie der Industrie einen Weg ebnen, bei dem das industriekritische Umweltbundesamt umgangen werden kann. So steht es im Artikel 34 Beteiligungen. Der Trick: Hersteller, die in Europa schon eine Zulassung haben, etwa in Österreich, Tschechien, Polen, haben nun Anspruch auf ein verkürztes Verfahren in Deutschland. Und in diesem Verfahren hat Ilse Aigner dem Umweltbundesamt sein Vetorecht ohne Not gestrichen. Hier kann das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), eine Aigner-Behörde, in Zukunft allein entscheiden. Das bestätigt man uns beim Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, dessen Expertise bei der Bundesregierung sonst sehr gefragt ist.

Prof. Wolfgang Köck, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung Leipzig: "Rechtlich bedeutet der Wegfall des Vetorechts, dass es auf das Votum des Umweltbundesamtes nicht mehr ankommt, dass auch gegen den Willen des Umweltbundesamtes eine Entscheidung getroffen werden kann."

Das bedeutet ganz neue Möglichkeiten für die Industrie. Hat sie beispielsweise eine Zulassung in Rumänien, kann sie diese nun für Deutschland beantragen – ohne das Veto des Umweltbundesamtes fürchten zu müssen. Ein Beispiel aus dem Weinbau: der Wirkstoff Chlorpyriphos-Methyl. In Österreich, in Rumänien zugelassen. Die Aigner-Behörde (BVL) hatte den Wirkstoff auch in Deutschland zulassen wollen, doch das Umweltbundesamt hatte sein Veto eingelegt, weil es diesen Stoff in Boden und Wasser für besonders giftig hält.

Prof. Klaus Kümmerer, Umweltchemiker, Universität Lüneburg: "Chlorperyphos-Methyl leitet sich von einer Stoffgruppe ab, die auch Nervenkampfstoffe umfasst. Und darauf beruht auch seine insektizide Wirkung.
Und eine starke Hemmung, Toxizität gegenüber dem Nervensystem auch bei Menschen. Durch diesen Stoff wird die Reizleitung in den Nerven unterbrochen."

Das Aigner-Papier, und das könnten die Konsequenzen sein bei Stoffen wie dem gefährlichen Chlorpyriphos-Methyl.

Prof. Klaus Kümmerer, Umweltchemiker, Universität Lüneburg: "Es ist eigentlich absurd, dass man hier jahrelang gekämpft hat, erfolgreich gekämpft und auch aus guten Gründen vor allen Dingen dafür gesorgt hat, dass bestimmte Stoffe bei uns nicht mehr zugelassen sind, dass die jetzt praktisch jetzt ohne Not durch die Hintertür wieder auf den deutschen Markt kommen können."

Wie klang das noch mal aus dem Munde Aigners?

Ilse Aigner, Bundestag 19.01.2011: "Vorsorgender Verbraucherschutz muss vor allen wirtschaftlichen Interessen stehen."

Gerne hätten wir die Ministerin gefragt, warum sie das Umweltbundesamt entmachten will. Kein Interview. Schriftlich verweist ihr Ministerium auf eine neue EU-Verordnung. Ziel sei, den Verbraucherschutz bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zu erhöhen. Das unterstütze sie. Sie setze sich für eine unabhängige, effiziente Prüfung ein. Gleichzeitig heißt es: Aktuell ist vorgesehen, dass doppelte Prüfungen vermieden werden. Das offensichtliche Eingeständnis der Ministerin, dass sie die Befugnisse des Umweltbundesamtes beschränken will. Was das bedeuten kann, zeigt diese Liste. Darauf besonders gefährliche Wirkstoffe, die in Nachbarländern Deutschlands zugelassen und in Deutschland nicht zugelassen sind.

Florian Schöne, Naturschutzbund Deutschland: "Die Gefahr ist, dass in Zukunft das hohe deutsche Verbraucherschutzniveau ganz erheblich verwässert wird, indem Altwirkstoffe aus anderen Mitgliedsstaaten, die also in hohem Maße toxisch oder krebserregend oder anderweitig gefährlich sind, plötzlich auch auf dem deutschen Markt zugelassen werden."

Imker Hülsmann hatte damals seine Bienenvölker verloren. Er hat zu spüren bekommen, was es bedeutet, wenn Pestizide eingesetzt werden, die die Umwelt vergiften. Er warnt davor, Hürden womöglich abzubauen, die Gefahr zu leicht zu nehmen.

Ekkehard Hülsmann, Imker: "Das ist für mich die eigentliche Tragik. Die Pestizidanwendung hat da Dimensionen überschritten der menschlichen Vorstellungskraft und das kann so nicht weitergehen."

Video der Sendung:
www.wdr.de/tv/monitor//sendungen/2011/0127/uba.php5


Mehr zum Thema:

WDR: MONITOR-Pressemeldung vom 27.01.2011: Streit um neue Pestizidverordnung aus dem Aigner-Ministerium
www.wdr.de/tv/monitor//presse/2011/110127.php5

WDR: MONITOR-Dossier: Umwelt
www.wdr.de/tv/monitor//dossiers/klimapolitik.php5

BMELV: Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
www.bmelv.de

NABU: Naturschutzbund Deutschland
www.nabu.de

Greenpeace: Bürgerinformationen gegen Dioxinpanscher
www.greenpeace.de/themen/landwirtschaft/nachrichten/artikel/buergerinformation_gegen_dioxinpantscher/

Umweltbundesamt: Dioxin in Futtermitteln: Quelle der Verunreinigung nicht völlig geklärt
www.uba.de/uba-info-presse/2011/pd11-002_dioxin_in_futtermitteln_quelle_der_verunreinigung_nicht_voellig_geklaert.htm

Umweltbundesamt: Chemikalienpolitik und Schadstoffe, REACH – Dioxine
www.umweltbundesamt.de/chemikalien/dioxine.htm

Unsere Partner