Das stabilste Seil der Welt

© Foto: Undine Adler

© Foto: Undine Adler

Netz mit Kokon der Wespenspinne
© Foto: Lutz Wolfram
Die scheinbar Unsichtbaren werden im herbstlichen Morgentau sichtbar. Nach winzigen Erschütterungen sind sie jedoch plötzlich für unsere Augen wieder verschwunden. Denn die herrlich glitzernden Wasserperlchen sind vom Netz gefallen. Sind es Kunstwerke oder technische Wunder? Geheimnisvoll bauen kleine Tierchen im Verborgenen ihre Behausungen, die auch z. B. als Liebesnester, Beutefanggeräte und Beutespeicher dienen. Webspinnen (Araneae) sind die Baumeister dieser kleinen Wunder. Nicht nur die Bauarten ihrer Netze faszinieren uns, sondern wir beneiden sie um deren Material. Dies wird in ihren Spinndrüsen hergestellt und ist hochelastisch. Spinnseide ist dünner, als menschliches Haar, bei einer verhältnismäßig vierfachen Belastbarkeit wie Stahl. Mit einem sehr geringen Gewicht, Wasserfestigkeit und großem Wasseraufnahmevermögen, sowie Resistenz gegen Mikroorganismen, ist sie ein Traummaterial für uns Menschen. Sogar gut biologisch abbaubar ist es! Dabei haben die Fäden je nach Funktion verschiedene Strukturen. Es gibt z. B. Material für Netzgrundgerüste, Sicherungs-, Klebe- und Abseilfäden sowie für Fäden zur Abgabe von Botenstoffen. Weibchen produzieren außerdem Fäden für Samentaschen zum Aufbewahren von Sperma sowie Kokonfäden für die Brutpflege. Im Kokon tragen sie ihre Eier bei sich, bis die Jungen schlüpfen. Jungspinnen stellen den sogenannten Altweibersommer her. Mit diesen Flugfäden können sie an einen anderen Ort „fliegen“, was auch Spinnenflug genannt wird. Fäden zur Übertragung taktiler Informationen brauchen sie, um Feind, Beute und Geschlechtspartner voneinander zu unterscheiden. Wenn ein Männchen bspw. das artspezifische Ritual nicht einhält, erkennt das Weibchen es nicht als Sexualpartner und verspeist es als Feind. Bei allen Webspinnenarten sind die Fadenproteine unterschiedlich aufgebaut. Dabei gibt es allein in Deutschland rund 1000 verschiedene Arten! Und weil sich Spinnen nicht züchten lassen, versuchen Wissenschaftler seit Jahrzehnten, das Material synthetisch zu gewinnen. Besonders für die Medizin interessant sind die beiden Eigenschaften, dass es bakterienresistent ist und vom menschlichen Immunsystem nicht als fremd erkannt wird. Erste Erfolge gibt es deshalb bei Verkleidungen von Implantaten, die dank der Spinnenseide nicht abgestoßen werden und keine Entzündungen verursachen. Auch wurden auf Spinnseidengewebe schon Bindegewebs- und Blutzellen kultiviert. 2016 wurde ein Schuh aus Spinnseide entwickelt und die Textilindustrie hat ebenfalls große Hoffnungen auf erfolgreiche Anwendungsgebiete.
Leider sind die Hersteller dieses natürlichen Hochleistungsmaterials Ursache der häufigsten Angststörung in unserer Kultur, der Arachnophobie, die inzwischen gut zu therapieren ist. In anderen Kulturen werden Spinnen in der Nähe der Menschen toleriert (weil sie gute Insektenvertilger sind), als Delikatesse verspeist oder sogar als Gottheit verehrt.
Quellen: